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Muss das behinderte Kind seine Kosten ausgleichen?

Im Zusammenhang mit der Funktion eines Beistandes für einen behinderten Neffen komme ich mit der folgenden Frage betreffend Ausgleichung von familienrechtlichen Unterstützungen an Sie: Die Mutter meines Neffen bezahlt monatlich grössere freiwillige Unterstützungsbeiträge (rund Fr. 1‘000.00 monatlich) an ihren Sohn an den Lebensunterhalt für die Heimkosten (Grundkosten Heim und Pflegekosten), die von der Invalidenrente, der Ergänzungsleistung und der Hilflosenrente nicht völlig gedeckt werden.

Im Zusammenhang mit einer späteren Erbschaft stellt sich folgende Frage: Sind die freiwilligen Unterstützungen der Mutter an ihren volljährigen behinderten Sohn – gegenüber seinem ebenfalls erbberechtigten Bruder – der Ausgleichungspflicht unterstellt? Falls eine Ausgleichungspflicht besteht, kann diese durch eine erbrechtliche Anordnung der Mutter, z.B. Testament, ausgeschlossen werden?

H.H.

Grundgedanke der Ausgleichung

Der Ausgleichung liegt der Gedanke zugrunde, der Erblasser wolle seine gesetzlichen Erben, insbesondere seine Nachkommen, gleich behandeln. Über die Ausgleichung wird den gesetzlichen Erben im Rahmen der Erbteilung an ihre Erbquote angerechnet, was sie vom Erblasser zu seinen Lebzeiten als Vorempfang erhalten haben. So werden sämtliche ausgleichungspflichtigen Vorempfänge von Erben bei der Feststellung des Nachlasses und der Bestimmung der jeweiligen Erbbetreffnisse miteinberechnet. Diese Berücksichtigung ausgleichungspflichtiger lebzeitiger Zuwendungen des Erblassers an gesetzliche Erben soll die Gleichbehandlung aller gesetzlichen Erben sicherstellen.

Gegenstand der Ausgleichung

Der Ausgleichungspflicht unterliegen nur unentgeltliche Zuwendungen, welche der Erblasser zu Lebzeiten getätigt hat. Keine ausgleichungspflichtigen Zuwendungen stellen grundsätzlich die in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht erbrachten Leistungen dar. Ob Zuwendungen in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht zur Verwandtenunterstützung ausgleichungspflichtig sind oder nicht, ist umstritten. Zuwendungen an Nachkommen, welche der Existenzbegründung, -sicherung oder –verbesserung dienen, stehen, sofern der Erblasser nicht ausdrücklich das Gegenteil verfügt, grundsätzlich unter der Ausgleichungspflicht.

Ausgleichung bei behinderten Kindern

Hier ist zu beachten, dass die monatlich wiederkehrende Leistung für ein behindertes Kind ausgerichtet wird. Behinderten Kindern steht von Gesetzes wegen bei der Teilung ein „angemessener Vorausbezug“ zu. Damit ist einerseits der Fall gemeint, in welchem der Erblasser verstirbt, bevor die besonderen Auslagen des behinderten Kindes gedeckt werden konnten. Diese gesetzliche Bestimmung kann aber andererseits analog auch auf den vorliegenden Fall angewandt werden, in welchem die Mutter die aus der Behinderung zusätzlich entstehenden Kosten freiwillig deckt. Der Sinn der gesetzlichen Bestimmung geht dahin, dass dem Kind aus seiner Behinderung keine Nachteile entstehen sollen bzw. sein Erbanspruch nicht für seine behinderungsbedingten Mehrkosten aufgebraucht werden soll.

Anordnungen betreffend Ausgleichung

Aus diesem Grund unterliegen die freiwilligen Unterstützungsleistungen der Mutter an den behinderten Sohn hier – trotz Freiwilligkeit – nicht der Ausgleichung. In jedem Fall aber hat der Erblasser die Möglichkeit, einseitig Anordnungen über die Ausgleichungspflicht oder deren Erlass zu treffen. Um für die Erbteilung Klarheit zu schaffen, empfiehlt es sich daher, dass die Mutter hier eine solche Anordnung trifft, dass die freiwilligen Unterstützungsleistungen nicht ausgleichungspflichtig sind. Die Anordnung sollte aus Beweisgründen schriftlich erfolgen. Testamentsform ist für Ausgleichungsanordnungen hingegen nicht erforderlich.

Kurzantwort
Die freiwilligen Unterstützungsleistungen der Mutter an den behinderten Sohn unterliegen nicht der Ausgleichung. Die Mutter sollte aber darüber eine schriftliche Anordnung treffen, um für die Erbteilung Klarheit zu schaffen.

(lic. iur. Marcel Vetsch, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt SAV Erbrecht und Fachanwalt SAV Familienrecht, Luzerner Zeitung)