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Aufhebung der «45er-Regel» im Unterhaltsrecht

Mein Ehemann und ich haben im Jahr 1997 geheiratet. Wir haben drei volljährige Kinder im Alter von 25, 23 und 19 Jahren. Ich habe mich während der gesamten Ehedauer der Erziehung der gemeinsamen Kinder gewidmet und mein Ehemann ging arbeiten. Mein Ehemann möchte sich nun scheiden lassen. Ich habe Angst, dass ich im Alter von 51 Jahren nur schwer eine Arbeitsstelle finden werde. Wird das bei der Berechnung der Unterhaltsbeiträge berücksichtigt?

Das Bundesgericht hat im Verlauf des letzten Jahres seine Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht angepasst. Dabei hat es unter anderem seine sogenannte «45er-Regel» aufgegeben. Diese besagte, dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufstätig war und im Zeitpunkt der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes beziehungsweise bei der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hatte.

Neu gilt das Prinzip der Eigenversorgung und die Obliegenheit zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch nach Erreichen des 45. Altersjahres. Unterhaltsbeiträge werden gemäss der neuen Rechtsprechung nur geschuldet, soweit der bisher gelebte Lebensstandard bei zumutbarer Anstrengung nicht oder nicht vollständig durch Eigenleistung erreicht werden kann. Neu besteht der Grundsatz, dass soweit die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in tatsächlicher Hinsicht möglich ist, diese auch zumutbar ist und ein entsprechendes (hypothetisches) Einkommen anzurechnen ist. Ob und wie schnell ein (Wieder-)Einstieg ins Erwerbsleben verlangt werden kann, hängt von einer konkreten Prüfung im Einzelfall ab, wobei verschiedene Kriterien wie das Alter, Gesundheit, sprachliche Kenntnisse, bisherige Tätigkeiten, Lage auf dem Arbeitsmarkt etc. berücksichtigt werden müssen. Je nach dem, wird eine kürzere oder längere Übergangsfrist gewährt, bis ein hypothetisches Einkommen angerechnet wird.

Eine Scheidung ändert die tatsächlichen Lebensverhältnisse und ein Ehegatte darf sich nicht ohne weiteres auf die frühere Rollenteilung berufen und sich darauf stützen, deshalb nicht arbeiten zu müssen. Die eheliche Unterhaltspflicht endet mit der Scheidung und es bestehen einzig noch Nachwirkungen der Ehe aufgrund «nachehelicher Solidarität», soweit die Eigenversorgung nicht oder nicht vollständig besteht oder hergestellt werden kann. Ein Ehegatte muss sich darum bemühen, wirtschaftlich unabhängig zu werden und seinen ehelichen Lebensstandard selbst zu decken. Von diesem Grundsatz kann nur in begründeten Einzelfällen ausnahmsweise abgewichen werden. Insbesondere wo die Ehe aufgrund verschiedener Faktoren das Leben eines Ehegatten in entscheidender Weise geprägt hat, lässt sich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine Unzumutbarkeit der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit begründen.

Das Alter spielt demzufolge bei der Berechnung der Unterhaltsbeiträge insofern keine Rolle mehr, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch nach dem 45. Lebensjahr zugemutet wird. Das Gericht hat bei der Berechnung der nachehelichen Unterhaltsbeiträge eine umfassende Prüfung des Einzelfalls anhand der konkreten Verhältnisse vorzunehmen.

(MLaw Silvia Ferraro, Rechtsanwältin, Seetaler Bote)