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Können wir vor unserem Tod einzelne Vermögensgegenstände frei verschenken oder testamentarisch bestimmten Personen zuteilen?

Wir sind ein pensioniertes Ehepaar (80 und 83 Jahre alt) und haben zwei Kinder und zwei Grosskinder. Wir besitzen ein Einfamilienhaus und ein kleines Vermögen. Können wir vor unserem Tod Vermögensgegenstände wie beispielsweise Mobiliarstücke, Schmuck, Kunstgegenstände frei verschenken oder testamentarisch bestimmten Personen zuteilen? Gilt es dabei erbrechtliche Vorschriften zu beachten?

M.S. und H.S.

Diese Fragen knüpfen an den Artikel “Können wir unser Vermögen vor unserem Tod frei verschenken?“ an, welcher in der NLZ-Ausgabe vom 21. Oktober 2015 erschienen ist.

Grundsatz der freien Vermögensverfügung zu Lebzeiten

Grundsätzlich können Sie zu Lebzeiten frei über Ihr Vermögen verfügen. Sie können also einzelne Vermögensgegenstände nach Ihrem Belieben frei verschenken.

Testamentarische Zuteilung einzelner Vermögensgegenstände

Das Erbrecht sieht für den Fall, dass ein Erblasser einzelne Vermögensgegenstände testamentarisch bestimmten Personen zuteilen will, verschiedene Möglichkeiten vor. Dabei ist zwischen einer Teilungsvorschrift, einem Vorausvermächtnis und einem Vermächtnis ohne Erbenstellung zu unterscheiden.

Zuweisung an einen Erben

Bei der testamentarischen Zuweisung einzelner Vermögensgegenstände an einen Erben stellt das Erbrecht die Vermutung auf, dass es sich bei einer solchen Zuweisung um eine blosse Teilungsvorschrift und nicht um ein Vorausvermächtnis handelt. Bei einer Teilungsvorschrift muss sich der Erbe den zugeteilten Gegenstand wertmässig an seinen Erbanteil anrechnen lassen. Ein Vorausvermächtnis hingegen ist die Zuwendung eines bestimmten Vermögensgegenstandes zusätzlich zum Erbanspruch. Sie können also Ihrer Tochter bspw. ein bestimmtes Schmuckstück aus Ihrem Vermögen mittels Testament zuteilen. Wenn es Ihr Wille ist, dass Ihre Tochter dieses Schmuckstück zusätzlich zu ihrem Erbanspruch erhalten soll, so müssen Sie dies in Ihrem Testament explizit so regeln, ansonsten gilt die Zuteilung als blosse Teilungsvorschrift und die Tochter muss sich den Wert des Schmuckstückes an ihren Erbanteil anrechnen lassen.

Zuweisung an einen Vermächtnisnehmer

Sie können testamentarisch einzelne Vermögensgegenstände auch einer Person oder Institution zuweisen, ohne dass diese Erbe wird. Diesfalls handelt es sich um ein sog. Sachvermächtnis. Im Falle des Todes des Erblassers sind dann die Erben verpflichtet, dem Vermächtnisnehmer den ihm zugewiesenen Vermögensgegenstand aus dem Nachlass herauszugeben.

Ausgleichung und Herabsetzung als erbrechtliche Schranken

Schenkungen, die Sie zu Lebzeiten an Ihre gesetzlichen Erben (wie insbesondere Nachkommen) ausrichten, sind – wie in meinem letzten Erbrechtsartikel ausgeführt – als Erbvorbezüge zu qualifizieren und unterliegen grundsätzlich der Ausgleichung.

Bei grösseren Zuwendungen können Schenkungen, sofern sie im Erbfall nicht ausgeglichen werden, und testamentarische Begünstigungen zu einer Verletzung des Pflichtteils der pflichtteilsgeschützten Erben (wie Nachkommen und Ehepartner) führen. Wurde der Pflichtteil eines Erben verletzt, so kann dieser vor Gericht die Herabsetzung der testamentarischen Begünstigung oder der Schenkung verlangen.

Kurzantwort
Jeder kann grundsätzlich einzelne Vermögensgegenstände frei verschenken oder testamentarisch einem Erben oder Vermächtnisnehmer zuteilen. Damit im Erbfalle die gesetzlichen Erben gleichbehandelt und deren Pflichtteile gewahrt bleiben, sieht das Erbrecht Schranken vor, die es sowohl bei Schenkungen zu Lebzeiten wie auch bei Begünstigungen in einem Testament zu beachten gilt.

(lic. iur. Marcel Vetsch, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt SAV Erbrecht und Fachanwalt SAV Familienrecht, Luzerner Zeitung)