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Erbvorbezüge und Ausgleichung

Wir sind verheiratet und haben zwei Kinder. Vor sechs Jahren haben wir unseren Kindern einen Erbvorbezug ausgerichtet. Unser Sohn erhielt eine Wohnung mit einem Schenkungswert (nach Abzug der Hypothek) von Fr. 250‘000.00. Damit unsere Tochter nicht benachteiligt wird, erhielt sie einen Geldbetrag von ebenfalls Fr. 250‘000.00. Der Wert der Wohnung ist inzwischen um ca. 20 % gestiegen. Ein Freund hat uns nun erzählt, dass wenn einer von uns verstirbt, unser Sohn seiner Schwester aufgrund der Wertsteigerung der Wohnung trotzdem einen Ausgleich zahlen muss. Stimmt das?

H.B.

Gesetzliche Ausgleichungspflicht der Kinder

Grundsätzlich können Sie zu Lebzeiten frei über Ihr Vermögen verfügen. Dabei gilt es jedoch einige Schranken des Erbrechts zu beachten, welche erst im Todesfalle greifen und unter anderem dem Schutz der Gleichbehandlung Ihrer gesetzlichen Erben dienen. Grössere Schenkungen, die Sie zu Lebzeiten an Ihre Kinder ausrichten, unterstehen in der Regel von Gesetzes wegen der Ausgleichungspflicht, sofern Sie Ihre Kinder nicht ausdrücklich von einer solchen Pflicht befreien.

Ausgleichungspflichtige Zuwendungen

Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts unterliegen nur diejenigen unentgeltlichen Zuwendungen der Ausgleichung, die der Existenzbegründung, -sicherung oder –verbesserung (sog. Versorgungscharakter) dienen. Hingegen unterliegen andere “Grossschenkungen“ eines Erblassers an einen Nachkommen nach dieser Rechtsprechung nicht der Ausgleichung. Die Abgrenzung zwischen einer unentgeltlichen Zuwendung mit Versorgungscharakter und einer, die keinen solchen aufweist, ist schwierig und im Einzelfall zu beurteilen. Bei grossen Vermögenszuwendungen wird zwar regelmässig ein Versorgungscharakter bejaht, je nach Vermögenssituation und Absicht des Erblassers und des Empfängers kann jedoch auch vom Gegenteil ausgegangen werden.

Anordnungen und Vereinbarungen betreffend Ausgleichung

Um solchen Unsicherheiten zu entgegnen, hat der Erblasser die Möglichkeit, einseitig Anordnungen oder mit den Zuwendungsempfängern (und gegebenenfalls mit den Miterben) Vereinbarungen über die Ausgleichungspflicht oder deren Erlass zu treffen. Um zu verhindern, dass Ihr Sohn im Todesfalle gegenüber Ihrer Tochter und dem überlebenden Ehegatten ausgleichungspflichtig wird und um sonstige Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Ausgleichung möglichst zu vermeiden, empfehle ich Ihnen, mit Ihren beiden Kinder einen Erbvertrag abzuschliessen. In einem solchen Erbvertrag kann die Befreiung von der Ausgleichungspflicht und der Anrechnungswert der Liegenschaft in der Erbteilung für alle Parteien verbindlich geregelt werden.

Bemessung der Ausgleichung

Die Ausgleichung bemisst sich nach dem Wert (der Sache) im Zeitpunkt des Erbgangs. Bei der Zuwendung einer Liegenschaft ist der Verkehrswert zum Todeszeitpunkt massgebend. Bei der Zuwendung eines Geldbetrages hingegen ist der Nominalwert, das heisst der Zuwendungsbetrag, massgebend, unabhängig davon, wie der Empfänger das Geld angelegt hat.

Angenommen, sowohl die Zuwendung an Ihren Sohn wie auch die Zuwendung an Ihre Tochter unterliegen der Ausgleichung und Sie befreien Ihre Kinder nicht von einer solchen, so müsste Ihr Sohn Stand heute in der Erbteilung Fr. 300‘000.00 zur Ausgleichung bringen, Ihre Tochter hingegen nur Fr. 250‘000.00.

Kurzantwort
Oft wollen Eltern ihre Kinder gleich behandeln, indem sie, wenn sie einem Kind eine Liegenschaft schenken, den anderen Kindern gleichzeitig als “Ausgleichung“ einen dem Verkehrswert der Liegenschaft im Zeitpunkt der Schenkung entsprechenden Geldbetrag schenken. In diesen Fällen empfiehlt es sich, den Anrechnungswert der Liegenschaft in einem Erbvertrag für alle Parteien verbindlich zu regeln, damit in der Erbteilung darüber später keine Streitigkeiten entstehen.

(lic. iur. Marcel Vetsch, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt SAV Erbrecht und Fachanwalt SAV Familienrecht, Luzerner Zeitung)