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Ausgleichung bei Liegenschaftsübertragungen

Unser verwitweter Vater hat unserem Bruder das Elternhaus 1999 für CHF 100’000 verkauft, obwohl es mindestens CHF 500’000 wert gewesen war. Dem Bruder wurde für diese CHF 100’000 ein zinsfreies Darlehen gewährt. Der Vater erhielt ein lebenslängliches und unentgeltliches Wohnrecht. Nun ist unser Vater gestorben. Müssen wir das so akzeptieren?

Jede Person kann zu Lebzeiten frei über ihr Vermögen verfügen. Somit stand es Ihrem Vater offen, Schenkungen auszurichten. Insbesondere umfangreiche Schenkungen können allerdings beim Tod des Schenkers zu Konsequenzen für die Erbteilung führen. So müssen die Nachkommen Zuwendungen, welche sie als Heiratsgut, zur Ausstattung oder durch Vermögensabtretung vom Erblasser erhalten haben, immer dann in der Erbteilung zur Ausgleichung bringen, wenn der Erblasser nicht ausdrücklich eine Befreiung von der Ausgleichspflicht verfügte. Reine oder gemischte Schenkungen von Liegenschaften gehören zu diesen ausgleichungspflichtigen Zuwendungen mit «Ausstattungscharakter».

Gemäss Ihren Angaben wurde Ihr Bruder im Kaufvertrag nicht ausdrücklich von der Ausgleichungspflicht befreit. Unklar ist aufgrund Ihrer Angaben allerdings, ob der kapitalisierte Wert des Wohnrechts im Kaufvertrag noch zusätzlich als «Gegenleistung» für die Liegenschaftsübertragung angerechnet worden war oder nicht. Falls der kapitalisierte Wert des Wohnrechts als Gegenleistung angerechnet worden war und dieser Wert zusammen mit dem Verkäuferdarlehen insgesamt etwa einen Wert in der Grössenordnung des damaligen Verkehrswerts ergeben hatte, so liegt gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts keine gemischte Schenkung vor.

Dies ist für Sie und Ihre Geschwister natürlich sehr unbefriedigend, da mit dem Tod des Vaters das Wohnrecht automatisch erlischt, Ihr Bruder dann eine unbelastete Liegenschaft hat und sich nur noch eine Darlehensforderung von CHF 100’000 im Nachlass befindet, an welcher Ihr Bruder dann sogar auch noch entsprechend seiner Erbquote anteilsmässig beteiligt ist. In der Literatur wird daher die Auffassung vertreten, diese Praxis des Bundesgerichts sei falsch und der kapitalisierte Wert des Wohnrechts sei de facto gar keine Gegenleistung. Geht man von dieser Auffassung aus, so würde gemäss Ihren Angaben ein Schenkungsanteil von CHF 400’000 zum Übertragungszeitpunkt vorliegen. Dabei müssten Sie allerdings beweisen können, dass sowohl Ihr Vater als auch Ihr Bruder damals bei der Eigentumsübertragung gewusst hatten, dass der effektive Wert viel höher als CHF 100’000 war und dass sie bewusst eine gemischte Schenkung gewollt hatten. Falls Ihnen dieser Nachweis gelingt, dann muss Ihr Bruder den Schenkungsanteil inkl. der anteilsmässigen Wertsteigerung bis zum Todeszeitpunkt zur Ausgleichung bringen. Ist also die Liegenschaft zum Todeszeitpunkt beispielsweise CHF 1 Mio. wert, dann muss Ihr Bruder CHF 800’000 zur Ausgleichung bringen (der Schenkungsanteil auf den damaligen Wert von CHF 500’000 bezogen war 80%). Falls der Bruder im Kaufvertrag von der Ausgleichungspflicht befreit worden wäre, dann müsste er den Schenkungsanteil zwar zur nicht zur Ausgleichung bringen, diesfalls würde aber der Schenkungsanteil der Herabsetzung bei allfälliger Pflichtteilsverletzung unterliegen.

Kurzantwort
Überträgt ein Elternteil zu Lebzeiten einem Nachkommen eine Liegenschaft zu einem Vorzugspreis, so liegt im Umfang der Differenz zwischen dem Verkehrswert und dem Kaufpreis eine unentgeltliche Zuwendung vor, welche der Nachkomme in der Erbteilung zur Ausgleichung zu bringen hat. In der Praxis stellen sich dazu allerdings je nach Konstellation zahlreiche, teilweise umstrittene Fragen.

(lic. iur. Marcel Vetsch, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt SAV Erbrecht und Fachanwalt SAV Familienrecht, Luzerner Zeitung)